Mythen, Erzählungen und Traditionen - Überlieferungen aller Art haben die Menschheit seit jeher fasziniert. In europäischen oder ur-sprünglich europäischen Kulturen erfreuen Märchen und phantasie-volle Geschichten die Kinder, während Erwachsene und Heranwach-sende mehr von Legenden und Mythen und deren Übergreifen in die Bereiche von Ritus und Religion angezogen werden. In anderen Kul-turen ist das Überlieferungsgut nicht so klar in verschiedene Bereiche trennbar und, vor allem in den schriftlosen oder ursprünglich schrift-losen Kulturen, für Menschen jeden Alters von Bedeutung. Bis vor kurzer Zeit konnte man über die Gründe für dieses intensive Interesse der Menschen an Überlieferungen nur Vermutungen anstellen. Heute wissen wir mehr: Gesellschaftlich gesehen unterstützen Überliefer-ungen Kinder und Heranwachsende in ihren Bemühungen, akzeptable und nützliche Mitglieder ihrer Gruppen zu werden, den Erwachsenen helfen sie, solche zu bleiben. Dem Individuum machen sie ungelöste seelische Konflikte erträglicher, die in den meisten Fällen bis in die Kindheit zurückrechen; sie können so grossen Einfluss auf die Chara-kterentwicklung haben. Ganz offensichtlich ist bei schriftlosen Völkern, bei denen die Enkulturation auf dem Wege gesprochener Kommunikation geschieht, dieser Einfluss der mündlichen Über-lieferungen grösser, und Gruppen und Individuen machen dort mehr Gebrauch von ihnen als in schreibenden Gesellschaften. Wie aber An-gehörige einer nicht-europäischen Kultur sich mit Hilfe ihrer Über-lieferungen mit den seelischen Problemen auseinandersetzen, mit denen sie fertig werden müssen, um gute Mitglieder ihrer Gesellschaft zu werden und zu bleiben, wurde bisher nicht systematisch erforscht. Dieses Buch berichtet über eine solche exemplarische Untersuchung, ausgeführt bei den Chiricahua- und Mescalero-Apachen, die im Mescalero-Reservat im südlichen Inneren von New Mexico leben und schriftlos waren, bis sie vom letzten Drittel des neunzehnten Jahr-hunderts an stark durch den Kontakt mit Weissen beeinflusst wurden.