Die Epigrammatik, diese literarische Gemmenkunst, seit je in allen Kultursprachen gepflegt und bewundert, ist, mindestens im Deutschen, vor etwa einem Jahrhundert sanft entschlafen und zwar so sanft, dass es bis zum heutigen Tage niemand bemerkt hat. Neue Epigramme werden kaum noch gelesen. So schwierig es sein dürfte, die Todesursache festzustellen, so sehr ist das Ableben zu bedauern. Zu den trauernden Hinterbliebenen gehören unter anderem die Kunst, die Sprache, der Verstand, die Bildung und der Geschmack.
Ob Kästners Bemühung, das Epigramm wiederzubeleben, durchaus geglückt ist, mögen Kritik und Publikum entscheiden. Feststeht, dass es sich um einen planvollen Versuch handelt, durch epigrammatische Kürze und Büdigkeit unserer Sprach- und Denkvernebelung entgegenzuwirken. Das eigentliche Ziel, das dem Verfasser vorschwebt, wäre erreicht, wenn seine Sinnspruchsammlung nicht weiter bedeutete als den ersten Schritt auf dem Wege zu einer neuen deutschen Epigrammatik.
EA der erweiterten Neuauflage?